Vita in Prosa

Ich heiße Knobl, Knobl ohne „e“, mit Vornamen Brigitte. Meine Patin und Tante gab mir zusätzlich ihren Namen Anna. Wie ich zu Monika kam, vergaß ich Resi zu fragen. Sie ging im Sommer 1999, am heißesten Julitag. Zuerst nannte ich sie Mama, später Mutti, weil sie es moderner fand und so wünschte. Noch später nannte ich sie Resi, weil ich begriff, dass sie mehr war als die Mutter von sechs Kindern. Als ich mich an ihrem Totenbett von ihr verabschiedete, war es wieder da – das eine, das erste Wort. Meine Sprache zerschmolz zu zwei Silben. Mama. Ein Wort, ein abgrundtiefer Schmerz, den mein kleiner Bruder Bernhard mit mir teilte. Bernhard, der Kleine, obwohl er ein Jahr älter ist als ich. In Familien herrschen nun mal eigene Gesetze. Der Bernhard is a Steirabua, der Bernhard hat a Kernnatur. Das brachte ihn früher zur Weißglut.
Neben den Schmerz trat plötzlich noch etwas anderes. Grenzenloses Staunen – über Resis Schönheit und ihre Souveränität. Ich hatte sie nie so klar gesehen wie in ihrem Tod. Und ich sah noch etwas. Ihre Liebe. Ich begriff erst später, dass sie sie mir vererbt hatte, in diesem Moment. Was haben Sie geerbt? Ein Haus, ein Vermögen, ein Möbelstück? Zum Glück gar nichts, weil ihre Lieben noch leben? Wie auch immer, ob es nun schon hinter oder noch vor Ihnen liegt. Achten Sie darauf, dass Sie Ihr Erbe nicht verpassen. Ein Grundstück ist ein Grundstück. Ein Schmuckstück ist ein Schmuckstück. Ein Kontobetrag ist ein Kontobetrag. Das regelt nur, wem was gehören soll. Ich spreche vom Erbe.

Ich küsste Resis Augen. Sie war kalt. Da begriff ich, dass sie gegangen war. Und gleich darauf, dass sie geblieben war, in mir, mitsamt ihrer Wärme. „Der Herr, der große Gott, nahm Wohnung in deinem Herzen, damit du eine ewige Wohnung im Herzen deines Vaters findest.“ Das stand auf der Holztafel, die mir der Pfarrrer zur Erstkommunion überreichte. Denn selbstverständlich bin ich katholisch, weil Resi nunmal aus Bayern stammt, genauer gesagt aus der Oberpfalz. Oder hatte ich Ihnen das schon erzählt? Katholiken bleiben Katholiken. Kirchenaustritte ändern nichts daran. Wer weiß, vielleicht trete ich eines Tages freiwillig wieder ein. Resi nahm Wohnung in meinem Sein. Sie ließ sich nicht mit dem Schmerz nieder. Sie brach das Lachen in mir los. Am Tag ihrer Beisetzung weinte ich mir die Seele aus dem Leib und lachte aus vollem Herzen. Ja, manchmal vermisse ich sie. Aber ich weine nur noch selten. Warum sollte ich auch. Sie ist in mir und bei mir und mischt sich in alles ein. Nicht nur bei mir, auch bei meiner Schwester und meinen Brüdern, und natürlich auch bei ihren Enkelkindern. Rückt halt nur keiner mit der Sprache so raus wie ich. Das kann mich aber nicht täuschen. Als mein Papa Toni einen Schlaganfall erlitt und mit 88 Jahren im Krankenhaus überwacht wurde, klebten an seinem Bett, und an keinem anderen sonst weit und breit, ganze Wälder von grellbunten Aufklebern. Neben Blümchen und Tieren auch ein knallrotes Herz. Resi klebte immer alles zu, am liebsten mit bunten Bildchen – Briefumschläge, Fenster, Vasen, Flächen beliebiger Art. Nur den Küchenaltar verschonte sie. Ihn krönten stattdessen pausbäckige Engel, Plastikblümchen, geweihte Osterkerzen, Palmkätzchen und das Foto unseres ältesten Bruders Erwin.

Was mir mein Papa Toni vererbt hat, erfahren Sie später. Oder sind Sie etwa neugierig? Na gut, dann verrate ich Ihnen schon mal soviel. Im hohen Alter machte sich bei Toni senile Demenz bemerkbar. Ich frage mich häufig, was das eigentlich heißen soll. Mittlerweile glaube ich, dass sich lediglich die Wahrnehmung der Zeit verändert. Was wir für senil und dement erachten, ist bei alten Menschen nur eine banale Frage von Zeit. Was macht es schon aus, ob etwas heute oder vor 47 Jahren geschah? Entscheidend ist doch nur, dass es einmal stattfand. Mal sah Toni in mir Brigitte, seine Jüngste, eine Sekunde später war ich seine tschechische Großmutter Katharina, die Quirch-Oma. Es machte mir nichts aus, denn letzten Endes sah mich Toni sehr klar. Beklemmend war nur, wenn er Resi in mir sah, weil er ihren Tod negierte. Aber eigentlich hatte er Recht. Resi war ja geblieben. Bei ihm und bei uns allen. Was habe ich also von Toni geerbt? Im Pflegeheim, wo Toni seine beiden letzten Lebensjahre verbrachte, sagte er einmal ganz unvermittelt: „Ich habe in meinem Leben immer viel gelesen. Und was ich nicht gelesen habe, das hat unsere Brigitte gelesen.“ Ja, es ist wahr. Meine Leseleidenschaft habe ich von Toni geerbt. In Wirklichkeit las er aber auch meine Bücher, von Puschkin über Tolstoi bis Dostojewski, die ich als Teenager verschlang.

„Wo habt ihr denn die Mutti gelassen?“, fragte Toni, wenn wir ihn besuchten. „Es geht ihr gut“, antwortete ich und suchte nach einem anderen Gesprächsgegenstand. Weil er es abgelehnt hatte, ihren Tod als reales Geschehen zu akzeptieren, wollten wir und das Pflegepersonal ihn in seiner Welt und seinem Recht auf die eigene Sichtweise nicht stören. Manchmal spielte er mit. Ein anderes Mal blieb er hartnäckig beim Thema. „Die Mutti hat wieder die Tür offen gelassen. Den ganzen Tag steht die Haustür auf. Deswegen sind so viele Leute reingekommen“, sagte er tadelnd und schüttelte den Kopf über den vollen Speisesaal. Und seine Mitbewohner sahen durch seine Worte hindurch, in die ferne Gegenwart längst gelebter Stationen.

Mit Leib und Seele Landwirt, war Toni ein rhetorisch gewandter Charmeur mit herzerfrischendem Witz, der die Menschen im Flug gewinnen konnte – wenn er denn wollte. Das Herz der Heimleiterin eroberte er sich bei der ersten Begegnung, als er sich als „Anton der Letzte“ vorstellte. Es gab Tage, an denen er das Heim als ein Kur-Haus betrachtete, das ihm zu seiner Erholung zur Verfügung stand. Dann lobte er die spitzenmäßige Bedienung.

Ohne mit der Wimper zu zucken, vermischte Toni alle Zeitebenen seines Lebens und hielt sich nun häufig dort auf, wo es ihm immer am besten gefallen hatte – auf seinem Hof im Sudetenland, den er als jüngster, aber einziger männlicher Nachkomme von den Knobl-Eltern geerbt hatte. „Die Scheune ist 28 m lang und 13,5 m breit“, sagte er, und ich riss mein Notizbuch heraus, um es festzuhalten. Was sich in seinem Gedächtnis eisern und unverwüstlich fest geschrieben hatte, würde ich morgen schon nicht mehr erinnern, ohne die Gedächtnisstütze des Schreibhefts. So ist es nämlich mit den sogenannten senilen Leuten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie vergessen nichts und niemanden. Wir dagegen können nur mit Mühe im Detail wiedergeben, was vor einem Monat geschah. Eines Tages würde sie niemand mehr kennen, die Einzelheiten eines Lebens, das in Vergessenheit zu versinken drohte, wenn „Anton der Letzte“ einmal nicht mehr wäre. Also notierte ich auch auf, dass es drei Kirschbäume auf dem Quirch-Hof gab. Jedem der drei Geschwister – Toni also und seinen beiden Schwestern Anna und Katherina – gehörte ein Baum persönlich, und zwar derjenige mit der eigenen Lieblingssorte. Es gab Weißkirschen, Rotkirschen und Sauerkirschen. Die Markgrafen-Kirsche war als erste reif. Die Weichsel-Kirsche gehörte Anna, der Ältesten, denn sie liebte ihren leicht säuerlichen Geschmack. Tonis Baum war die rote Süßkirsche.

Als mein Bruder Tom aus Berlin kam und wir Toni besuchten, saß er gerade am Fenster, fasziniert von den unzähligen Fahrzeugen, die Tag für Tag auf der fern liegenden Straße durch die grünen Felder fuhren, im Landkreis Mies, tschechisch Stríbro, seiner Heimat im Egerland, die er – wenn man uns fragte – seit 50 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Als Tom leicht irritiert nachhakte, was für Fahrzeuge es denn seien, Pferdefuhrwerke oder was – schließlich wollte auch er ihn nicht in seiner Welt stören -, wies ihn Toni liebevoll, aber bestimmt zurecht: „Ach was, die gibt’s doch heute gar nicht mehr.“ Ein bisschen schien er sich schon zu wundern über die Weltfremdheit seines Sohnes. Was Tom von Toni geerbt hat? Seine Musikalität. Denn Toni spielte einmal Klarinette und Querflöte, bevor ein Granatsplitter den Daumen seiner rechten Hand zerfetzte. Im zweiten Weltkrieg, wann sonst. Sein feines musikalisches Gehör behielt er. In der Kirche gab er mit seiner kraftvollen Stimme und dem richtigen Tempo stets den Ton an. Während die anderen Kirchgänger die Töne verschleppten oder auch gar nicht trafen, zu tief oder zu niedrig sangen, blieb er als einziger im richtigen Rhythmus und in der richtigen Tonlage. Denn Toni war Musikant in seiner Jugend und er blieb Musikant bis ins hohe Alter, auch wenn er sein Instrument nicht mehr greifen konnte. In einer Egerländer Blaskapelle spielte er einst in den umliegenden Dörfern und Gemeinden zum Tanz auf.

Wissen Sie, es ist nicht so, dass ich einer kleinen Familie entstamme. Ich habe eine Schwester, vier Brüder und einen Halbbruder. Horst, Antons erstgeborener Sohn, wuchs in Weimar auf, in der ehemaligen DDR. Nun, was dachten Sie denn? Das Leben meiner Elten spiegelt ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte wider, das von zwei Weltkriegen geprägt wurde. Die Geschichte eines Landes, das in zwei Teile zerriss, als es die Mitte des Jahrhunderts fast erreicht hatte. Und mit ihm zerrissen die Familien, die fortan durch eine Mauer getrennt lebten. Als der Eiserne Vorhang zufiel, konnten viele Menschen nur noch von ihrer Heimat träumen – von Schlesien, Ostpreußen, Mähren und Böhmen. Die einen verklärten sie, die anderen versteckten sie. Aber vergessen konnte sie keiner. Der Albtraum von Flucht und Vertreibung, von Schuld und hilfloser Lähmung ließ viele verstummen. Wer wollte noch etwas wissen von ihrer Herkunft? Ihre Kinder mochten den alten Krempel nicht mehr hören. Und wenn doch, dann kamen bald Anklage und Vorwurf der Kollektivschuld über ihre Lippen, in ihrer Gnade der späten Geburt. Wir wussten alles. Und selbstredend wussten wir es auch besser. Wenn die Fabriksirene aufheulte, zuckte Resi zusammen und schlug dreimal das Kreuz über ihrer üppigen Brust. Und wenn ein Flugzeug der nahe gelegenen Kaserne im Tiefflug über unser Haus fegte, ging Toni in Deckung. Dank des deutschen Wirtschaftswunders erfuhr keiner von uns, was Hunger ist. Als endlich die Fragen aufstiegen und mit ihnen die Bereitschaft zum Zuhören, war es zu spät. Sie waren gegangen oder für direkte Fragen nicht mehr zugänglich, weil das Alter sie in andere Zeitordnungen versetzt hatte. Jetzt muss ich es mühsam zusammenklauben, das Mosaik meiner Geschichte.

Wenn Sie sich auf meine Vita in Prosa einlassen, werden Sie Zeit mitbringen müssen. Denn wenn ich einmal ins Reden komme, höre ich so schnell nicht wieder auf. Heute kommen Sie noch einmal glimpflich davon. Ich muss das ja alles erst aufschreiben, die vielen Geschichten, die um mich schwirren, seit ich auf die Welt kam. Sehen wir uns also wieder auf escrita.de? Aber vergessen sie bitte nicht, wie wichtig konstruktive Kritik für die Motivation ist. Geben Sie mir Rückmeldung im Gästebuch.